Wir brauchen ausreichend ausgebildete Personen

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Univ.-Prof. Dr. Anita Rieder ist Vizerektorin der Medizinischen Universität Wien sowie Leiterin des Zentrums für Public Health. Im Interview zieht die Medizinerin Corona-Bilanz und erklärt, was es mit dem Gesundheitsbegriff auf sich hat.

Univ.-Prof. Dr. Anita Rieder (Foto: Meduni-Wien: Matern)
Univ.-Prof. Dr. Anita Rieder (Foto: Meduni-Wien: Matern)

Wie definieren Sie persönlich Gesundheit?

Ich bevorzuge den salutogenetischen Ansatz: Es gibt weder gesund noch krank bzw. es gibt kein „ganz gesund“ oder „ganz krank“. Es ist ein Gesundheits-Krankheits-Kontinuum und man muss Gesundheit im Gesamtkontext der Lebensumstände sehen. Mir ist der Begriff der Widerstandsressourcen wichtig: Wie geht man mit chronischer Krankheit etwa um? Bin ich etwa Diabetikerin, kann ich nicht sagen, ich bin in ALLEN Bereichen meines Lebens ebenso krank oder in allen ANDEREN Bereichen komplett gesund. Ich habe zwar eine chronische Erkrankung, verfüge aber auch über andere Lebensbereiche, die zu meiner Gesundheit beitragen. Der pathogenetische Ansatz ist im Gegensatz dazu krankheitsorientiert.

Hier geht es auch um psychische Gesundheit und kognitive Fähigkeiten, etwa meine Problemlösungsfähigkeiten. Bin ich optimistisch und wie gehe ich mit Herausforderungen um? Die berufliche Sicherheit ist ebenso maßgeblich: Habe ich einen sicheren Arbeitsplatz, der mich ausfüllt und wo ich Anerkennung erfahre oder muss ich andauernd Sorge haben, ihn zu verlieren? Es sind persönliche Lebensumstände und individuelle Faktoren, welche Kapazitäten und Ressourcen man hat. Was trägt zur Gesundheitsentstehung bei? Auch die Peergroup ist entscheidend: Welche Handlungsmuster – gesundheits- oder krankheitsfördernde – werden gelebt? Treffen wir uns im Freundeskreis zur aktiven Freizeitgestaltung, zum Radfahren, Wandern oder Spazierengehen, so zählt neben dem Sozialen auch die gesundheitsförderliche Bewegung als Beitrag zur Krankheitsprävention, z.B. vor Diabetes und Adipositas.

Fakten sind der Bevölkerung zumutbar, aber das Hin und Her, die Komplexität und stetiges Zurückrudern verunsichern.

Univ.-Prof. Dr. Anita Rieder

Die Corona-Pandemie findet zu einer Zeit statt, wo jede*r auf unendlich viele Informationen zugreifen kann. Wie bewerten Sie das als Public Health Expertin und nutzt es eventuell dem Gesundheitsbewusstsein?

Ich sehe großes Potential. Man setzt sich mit neuen Themen und Begriffen auseinander, die vorher kaum in der Wahrnehmung der Bevölkerung vorhanden waren: Inzidenz und Prävalenz war bisher keine gängigen Begriffe, sondern klassische Public Health Indikatoren, die bislang der Medizin vorbehalten waren. Mir ist im Pandemie-Kontext wichtig, dass faktenbasierte Wissensvermittlung stattfindet, man sich auf die Sender*innen verlassen kann. Fakten sind der Bevölkerung zumutbar, aber das Hin und Her, die Komplexität und stetiges Zurückrudern verunsichern. Es braucht bundesweit einheitliche, einfach gehaltene Information, um Handlungsstrategien nachvollziehen und verstehen zu können. Doch man kann nicht verhindern, dass Situationen politisch genutzt werden. Das ist das politische Spannungsfeld mit unterschiedlichen Interessenslagen, in dem sich Public Health immer befindet. Bei Corona hat man es besonders gesehen, da wir als Gesamtbevölkerung betroffen sind/waren. Man sieht, wie politisch Public
Health ist. Ein gutes Beispiel dafür ist auch die Raucher*innen-Debatte gewesen. Es hat ewig gedauert, bis hier eine klare Lösung gefunden wurde. Das gesetzliche Rauchverbot wurde beschlossen, aufgeweicht, verschoben und dann schließlich doch umgesetzt.

Es gilt, klar zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Interessen zu differenzieren. Unterschiedliche Meinungen, die aufeinandertreffen, führen auch zu gesellschaftlichen Spannungen. Public Health hat es da nicht immer leicht: Die individuellen Einschränkungen im Sinne der Gesamtgesellschaft werden nicht immer und von jedem akzeptiert und mitgetragen.

Glauben Sie, es bleibt uns etwas Positives aus der Pandemie erhalten?

Ich hoffe sehr, dass wir in Zukunft verstärkt auf professionelle Risikokommunikation setzen. Länder wie Dänemark haben das gezeigt: Hier hat man besser kommuniziert. Wichtig wäre mir auch, dass man sich besser vorbereitet. In der Krise muss alles sehr schnell gehen, aber ohne Vorbereitung ist das kaum möglich und Fehler passieren. Man muss stärker auf die Zielgruppen eingehen. Außerdem hoffe ich, dass wir in Bezug auf Gesundheitsdaten bessere, datenschutzkonforme Lösungen haben: Ich muss als Wissenschaftlerin die Möglichkeit haben, bereits frühzeitig ein Infektionsgeschehen nachzuvollziehen und vorherzusehen.

War der Satz „Es wird jeder jemanden kennen, der …“ eine Fehlkommunikation?

Für uns alle war das eine völlig neue Situation. Wir haben die schrecklichen Bilder gesehen, hatten Angst und infolgedessen wurde der erste Lockdown auch akzeptiert. Etwas muss also richtig gemacht worden sein. Bei der Dauer des Geschehens und der Komplexität wird es natürlich immer schwieriger, gewissen Vorgaben und Verhaltensweisen zu argumentieren und Verständnis zu erzeugen.

Was bedeutet Gesundheitskompetenz und wie steht Österreich hier da?

2020 wurde von der ÖGK die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung erhoben. Im europäischen Vergleich (17 Länder) schneidet Österreich schlecht ab. 56 % der Gesamtbevölkerung mangelt es demnach an Gesundheitskompetenz. 30 kommen mit dem Gesundheitswesen per se nicht zurecht. Nur Bulgarien steht hier noch schlechter da. Besonders betroffen sind vulnerable Gruppen, ältere Menschen, Menschen mit chronischen Erkrankungen und auch sozio-demografische Faktoren wie niedriger Bildungslevel und finanzielle Schlechterstellung wirken sich nachteilig auf die Gesundheitskompetenz aus. Nur 10 % verfügen über eine exzellente Gesundheitskompetenz.

Gesundheitskompetenz ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist – besonders in Zeiten der Digitalisierung. Wir unterscheiden zwischen der funktionalen Form (Lesen, Schreiben etc.) und der interaktiven Form (Informationen einholen, sich im Gesundheitswesen orientieren und Informationen in die Praxis umsetzen können). Auch die kritische Betrachtung wird immer wichtiger: Das kritische Auseinandersetzen mit Gesundheitsinformationen, die Interpretation und Bewertung von Informationen und Quellen und die konkrete Anwendung der Informationen für mich.

Was wünschen Sie sich für den Public Health Bereich?

Wir brauchen ausreichend ausgebildete Personen, die auch in Krisensituationen verfügbar sind. Viele davon arbeiten in Gesundheitskassen und öffentlichen Stellen. Ich wünsche mir eine größere Workforce im medizinischen Public Health Bereich, wie wir sie hier am Zen­trum ausbilden. ˜

 Das Interview führte Stefanie Kurzweil

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