sam WIEN hat einen der großen Zeitzeugen der europäischen Nachkriegsgeschichte, Professor Paul Lendvai, getroffen. In seinem neuen Buch beschäftigt er sich mit der Heuchelei in der Politik. Ein Interview über Demokratie, Zivilcourage und was in Krisenzeiten Hoffnung gibt.
Herr Professor Lendvai, in Ihrem aktuellen Buch „Über die Heuchelei“ kritisieren Sie die blinde Russlandpolitik Deutschlands, das Verkennen der russischen Aggression und das Missachten der Warnzeichen, vor allem seit der Annexion der Krim 2014. War Österreich auch blind in Bezug auf Russland?
Ja, natürlich war Österreich auch blind. Wir kennen die Bilder vom Besuch des russischen Präsidenten in der Wirtschaftskammer, wo er sehr freundlich aufgenommen wurde und Witze über die Diktatur gemacht wurden. Wir wissen auch von den häufigen Begegnungen des damaligen Bundeskanzlers Kurz mit Putin. Es gab ein Jahr, in dem vier Treffen stattgefunden haben. Ebenso ist in Erinnerung, dass wir eine Koalitionsregierung ÖVP/FPÖ hatten, in der die FPÖ-Außenministerin besonders enge Beziehungen zu Präsident Putin und zu Russland gepflegt und wertvolle Geschenke von Putin anlässlich ihrer Hochzeit erhalten hat. Jetzt arbeitet sie öffentlich für Russland als Leiterin eines sogenannten Think-Tanks in St. Petersburg.
Es bedeutet natürlich eine Gefahr für Österreich, wenn eine Partei gegen die Ukraine Stellung nimmt oder mit der Putin-Partei „Einiges Russland“ sogar ein Freundschaftsabkommen zur Zusammenarbeit schließt. Das stellt einen Unsicherheitsfaktor in der österreichischen Innenpolitik dar. Heute wird schon auf höchster Ebene in unserem Land über das Problem der Unterwanderung durch Russland diskutiert. Das ist, wie so vieles in der österreichischen Geschichte zu wenig und zu spät, aber immerhin geschieht es.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Russlands Wladimir Putin und Ungarns Viktor Orbán als „starke Männer“ an der Spitze ihres Landes, die durchgreifen und die Geschicke ihres Staates lenken. Umfragen zeigen, dass die Idee des „starken Mannes“ auch in Österreich wieder an Reiz gewonnen hat. Warum?
Menschen suchen in Perioden der Krise Sicherheit und Unterstützung. Wenn sie streitende Parteien sehen, verlieren sie das Interesse an der Politik. Sie wünschen sich jemanden, der da ist, ihnen Anweisungen gibt und die Richtung zeigt.
Aber wir haben nicht nur in den schlimmsten Fällen, wie bei Mussolini oder Hitler, gesehen, wohin das führt. Wir sehen auch heute, was das bedeutet: Etwa beim türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, dessen Land eine Inflation von mehr als 50 Prozent hat. Oder in Ungarn, das das korrupteste Land in der EU ist. Oder in Russland, wo es mit Wladimir Putin jemanden gibt, dessen einzige Befähigung es ist, beim Geheimdienst gewesen zu sein, und der jetzt, nachdem er ein Vierteljahrhundert an der Spitze eines riesigen Landes steht, dafür sorgt, dass niemand seine Macht bedrohen kann.
Es gilt, was der große britische Philosoph Lord Acton sagte: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.“ In diesem Zitat ist alles enthalten und es bestätigt sich immer wieder. Es hat natürlich auch für große Aktiengesellschaften seine Gültigkeit. Dort können aber wachsame Aktionäre oder der Rechnungshof einschreiten. Also, Herr Benko hätte nicht 25 Jahre seinen Reichtum vergrößern können, wenn dadurch gewisse Probleme entstehen.
Das heißt, es gilt der oft zitierte Spruch des ehemaligen Premierministers von Großbritannien Winston Churchill, der sinngemäß gesagt hat: Die Demokratie ist ein schlechtes System, aber er kennt kein besseres. Und das ist so.
Ohne Hoffnung kann man nicht leben. Hoffnung ist eine der wichtigsten Antriebskräfte der Menschheit. Man hofft, dass etwas besser wird. Eine wichtige Bedingung ist, dass man dafür auch etwas tut.
Was kann man tun, damit wieder mehr Menschen Vertrauen in die Demokratie haben?
Das ist ganz einfach. Bildung, Bildung, Bildung. Und wichtig wäre, dass mehr Menschen wieder lesen. Ich meine damit, mehr Qualitätszeitungen und Bücher statt Verdummungsmittel wie TikTok und Ähnliches. Man muss aufzeigen, wie gefährlich es ist, wenn die Demokratie bedroht wird. Es gibt genug Beispiele aus der österreichischen Geschichte, aus der deutschen Geschichte, aus der europäischen Geschichte, die das belegen.
Auch gute Filme und Theaterstücke können aufklären. Aber es ist natürlich leichter, Unterhaltung zu produzieren als Aufklärung in einer Art und Weise, die nicht langweilig und nicht verbraucht ist, sondern etwas Neues bietet. Das sind große Herausforderungen, die sich in Österreich, aber nicht nur in Österreich, stellen. Wie kann sich eine Demokratie gegen ihre inneren Feinde, also gegen jene, die die Demokratie von innen zerstören wollen, wehren?
Das Problem ist, die Menschen gewöhnen sich relativ schnell an die Errungenschaften der Demokratie, der Globalisierung, dass sie Erasmus-Stipendien haben, dass sie überall arbeiten und ohne Visum frei reisen können, dass sie zivile Rechte und Menschenrechte genießen – das wird alles als gegeben betrachtet.
Man muss sich aber bewusst sein, dass dies nicht selbstverständlich ist. Man muss kämpfen, um diese Rechte zu verteidigen oder um sie wieder zu gewinnen. Es gibt Beispiele wie in Polen, wo eine autoritäre Entwicklung aufgehalten wurde. Es gibt Beispiele wie in der Türkei, die nur eine halbe Demokratie ist und wo Journalist:innen im Gefängnis sind, dass auch der „starke Mann“ nach vielen Jahren an der Spitze zumindest in den Gemeinden und in den großen Städten gestürzt werden kann. Man darf nicht defätistisch werden und aufgeben. Mein Schlagwort war in meinem Leben immer – und ich glaube, das ist auch das Schlagwort der Demokratie – „Nie aufgeben!“.
Welche Möglichkeiten haben Menschen, sich gegen Demokratieverlust einzusetzen? Welche Bedeutung hat die Zivilcourage?
Es ist unglaublich wichtig, dass Menschen – mit einem einfachen Wort ausgedrückt – anständig sind. Und Anständigkeit bedeutet auch, für andere Menschen zu sorgen. Nicht nur in der eigenen Familie, sondern für Schwache, für Benachteiligte und für Flüchtlinge, die vor einer Diktatur oder einem Bürgerkrieg fliehen. Es geht um Toleranz und Verständnis. Österreich ist ein Land, in dem fast jeder Zweite aufgrund der Eltern oder Großeltern sogenannte ausländische Wurzeln hat. Das Problem ist, nicht nur in Österreich, aber auch hier, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund neue Zuwanderer nicht sehr freundlich empfangen.
Warum ist das so?
Der Mensch hat eben auch Eigenschaften wie Selbstsucht und Egoismus. Auch Angst ist ein Grund dafür und vielleicht auch das Fehlen von Bildung.
Es ist natürlich auch wichtig, dass eine Gesellschaft nicht über Gebühr belastet wird. Es gibt die Pensionistinnen und Pensionisten, die Ängste vor der Zukunft haben, und viele andere Gruppen, die ihre Ansprüche stellen. Aber eine Sichtweise, die ich beobachtet habe: Es gibt Menschen, die möchten, dass wir ausländische Arbeitskräfte von sieben oder acht Uhr früh bis 17 Uhr in unserem Land haben und dass sie danach verschwinden, sich in Luft auflösen. Wenn sich aber herausstellt, dass sie Familie und Kinder haben oder dass sie krank werden, dann bedeutet das, dass wir diese Menschen zur Kenntnis nehmen müssen.
Als ich vor vielen Jahren einen Herzinfarkt hatte, habe ich damals im AKH festgestellt, dass alles zum Erliegen kommen würde, wenn keine slowakischen, kroatischen oder syrischen Krankenschwestern oder Röntgenassistenten da wären. Es ist sehr wichtig, das zu verstehen. Jeder, der in Österreich in Spitälern war, kennt diese Situation.
Die Medien, Kirchen und Lehrer haben eine sehr große Verantwortung, wenn es um die Vermittlung von Toleranz und Verständnis geht. Eine entsprechende Bezahlung für Lehrer und das Gesundheitspersonal wäre wünschenswert. Wenn man bedenkt, wie manche Menschen oft mit unlauteren Methoden zu sehr viel Geld gekommen sind und wie viel Armut es in der Gesellschaft gibt, dann hat man den dringenden Wunsch, dass sich die Gerechtigkeit durchsetzt.
Mein Schlagwort war in meinem Leben immer — und ich glaube, das ist auch das Schlagwort der Demokratie — „Nie aufgeben!
Im Herbst haben wir in Österreich Nationalratswahlen. Wie sehen Sie die Zukunft Österreichs?
Das hängt von der Wahl ab. Man kann nur hoffen, dass sich die Menschen zurückerinnern, was unter der Vorgängerregierung war und sie nicht vergessen, was die einzelnen Parteien repräsentieren.
Ich kann nichts voraussagen. Ich erwarte - vielleicht hoffe ich eher - dass die Parteien, die sich zur Demokratie ohne Wenn und Aber bekennen und für die Europäischen Union und für die Zivilgesellschaft einstehen, von den Wählern mehr unterstützt werden, als Umfragen behaupten.
Ich glaube, Österreich ist stark genug, diese Herausforderung zu überleben. Trotzdem müssen wir alles tun, damit die Menschen sehen, wie wichtig die Demokratie ist.
Gibt es trotz der vielen Krisen und Bedrohungen etwas, das Ihnen für die Zukunft Österreichs und Europas Hoffnung gibt?
Wissen Sie, wenn man ein langes Leben gehabt hat, blickt man auf vieles zurück und setzt es in Relation zueinander. Ich habe die Hoffnung, dass man auch schwierige Perioden, die ein Land erlebt, überwindet. Vergleichen Sie die Situation heute in Österreich mit der Situation vor 60 oder 80 Jahren. Oder setzen Sie das Leben in Österreich in Vergleich zu jenem von Menschen, die heute in Nachbarländern – zum Beispiel in Ostungarn – oder in anderen Ländern leben.
Es gibt mir Optimismus und Hoffnung, wie schwierige Phasen überwunden wurden. Gleichzeitig sehen wir aber auch, was heute, 2024, seit zwei Jahren in der Ukraine passiert. Es stellt sich die große Frage, wie selbstsüchtig und egoistisch wir sind, wenn wir darüber nachdenken, was wir für die Ukraine tun können, die auch für uns kämpft. Es ist sehr, sehr wichtig, das Verständnis und Interesse sowie die Hilfsbereitschaft für andere Menschen und ihre Situation zu bewahren.
Außerdem muss man das Glück, das man erfährt, schätzen können. Ich persönlich hatte Glück, als ich einen Herzinfarkt im ORF-Zentrum hatte, gleich ein Hubschrauber zur Stelle war – und ich überlebte. Wäre ich in China unterwegs gewesen, wo ich zum ersten Mal Schmerzen hatte, hätte ich nicht überlebt und könnte heute nicht mit Ihnen hier sitzen.
Man muss an das Glück glauben. Sonst könnte ich nicht schreiben. Ich hoffe, durch das Schreiben und Reden einige Menschen wecken zu können. Ohne Hoffnung kann man nicht leben. Hoffnung ist eine der wichtigsten Antriebskräfte der Menschheit. Man hofft, dass etwas besser wird. Eine wichtige Bedingung ist, dass man dafür auch etwas tut. Deshalb sind Wohltätigkeitsvereine und Rettungsorganisationen so wichtig. Und das, was Sie tun.
Eine letzte, sehr persönliche Frage: Ich habe gelesen, im August feiern Sie Ihren 95. Geburtstag. Was ist das Geheimnis Ihrer Jugend?
Das ist nur eine Frage des Glücks und der Menschen, die einen umgeben. Ich bin mit meiner Frau seit 20 Jahren glücklich. (Gattin ruft lachend aus der Küche: „Danke!“)
Wichtig ist auch, dass man seine eigenen Grenzen kennt und trotzdem neugierig bleibt. Es gibt so viel Interessantes: Bücher, Städte, Pflanzen, Filme – so vieles, das man nicht weiß und wissen möchte. Und dann kommt man darauf, wie wenig man weiß.
Susanne Kritzer, Bertram Gross
Paul Lendvai:
Paul Lendvai, 1929 in Budapest geboren, überlebte die Shoah und floh 1957 nach Österreich. Viele Jahre arbeitete er als Auslandskorrespondent für die Financial Times und war u. a. Leiter der ORF-Osteuropa-Redaktion und Intendant der Kurzwelle.
Nach wie vor ist er als Standard-Kolumnist und Osteuropa-Experte tätig. Er hat insgesamt 20 Bücher geschrieben, sein aktuelles Buch „Über die Heuchelei“ ist 2024 erschienen.
Das könnte Sie auch interessieren
Aktionen
#zeitfürwasgscheits - FSJ beim Samariterbund
Genug mit langweiligem Rumhängen, es ist „Zeit für was g‘scheits“ - n&au...
#samaritergepflegt
Das Thema Pflege wird derzeit heiß diskutiert. Doch dabei darf es nicht nur ums Geld gehen. Im...
Zivildienst
Etwa 1.400 engagierte junge Männer leisten jährlich ihren Zivildienst beim Arbeiter-Samari...
Kommentare