Je größer die Ressentiments gegen Muslime sind, desto größer ist der Erfolg des Terrors
Am 2. November 2020 verübte ein vorbestrafter Islamist in der Wiener Innenstadt einen brutalen Terroranschlag, bei dem vier Menschen starben und mehr als 20 zum Teil schwer verletzt wurden. Der Attentäter, ein 20-jähriger Österreicher, war IS-Sympathisant. 2019 war er wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung zu einer 22-monatigen Haftstrafe verurteilt worden, nachdem er versucht hatte, sich in Syrien der IS-Miliz anzuschließen.
Welche Beweggründe veranlassen junge Männer, für den sogenannten „Islamischen Staat“ in den Krieg zu ziehen und Menschen zu töten? Was führt zur Radikalisierung und wie kann eine Gesellschaft seine Bürger bestmöglich davor schützen? sam WIEN hat darüber mit dem Politologen und Dschihadismus-Experten Thomas Schmidinger gesprochen. Er unterrichtet an der Universität Wien und forscht zu den Themen Islamismus, Migration und religiöse Minderheiten im Nahen und Mittleren Osten.
sam WIEN: Der Terroranschlag in Wien, aber auch alle anderen schrecklichen Attentate in jüngerer Zeit in Europa, die im Namen des sogenannten „Islamischen Staates“ verübt wurden, haben eines gemeinsam. Sie wurden stets von jungen Männern ausgeübt. Warum? Sind junge Männer besonders empfänglich für die Ideologie des Dschihadismus, also des gewalttätigen Terrorismus?
Thomas Schmidinger: Terroranschläge werden fast ausschließlich von jungen Männer durchgeführt. Es gibt aber auch Frauen, die sich ins Gebiet des „Islamischen Staates“ aufgemacht haben oder Sympathien gegenüber dem IS haben. Der Dschihadismus ist eine patriarchale Ideologie. Männer und Frauen haben demnach einen unterschiedlichen Stellenwert. Innerhalb des IS gab es Debatten, ob Frauen überhaupt zu Waffen greifen dürfen. Erst als dem IS in Syrien die Kämpfer ausgingen, entschloss man sich, auch Frauen als letztes Aufgebot zur Verteidigung in den Kampf zu schicken.
Zudem haben Männer ein größeres Maß an Gewaltfaszination als Frauen. Männer reisen in das Gebiet des IS, weil sie von Gewalt fasziniert sind. Frauen sind eher von einem übertriebenen Altruismus getrieben, etwa um Kinder zu retten, die vom Assad-Regime gefoltert und misshandelt wurden.
Welche Erfahrungen haben Sie in Bezug auf die Gründe für die Radikalisierung der Attentäter?
Die Täter von Terroranschlägen haben sehr unterschiedliche Biografien. Aber alle haben eine starke Entfremdungserfahrung in der hiesigen Gesellschaft erlebt. Gleichzeitig haben alle von dschihadistischen Gruppen erhalten, wonach sie gesucht haben: Nämlich Zugehörigkeit, Sinn, Gemeinschaft.
Die Erfahrung zeigt, dass es primär um die psychischen Bedürfnisse geht, die gestillt werden wollen.
Und wenn dann dschihadistische Gruppen das aufgreifen, kommt es zu einem Prozess der Ideologisierung - man kann das auch Radikalisierung nennen. Es geht im Wesentlichen um eine ideologische Indoktrinierung. Die Gründe, warum es zu einer starken Entfremdungserfahrung kommt, können sehr unterschiedlich sein. Das können psychische Probleme sein, Schulversagen, Familienprobleme, das Fehlen einer Vaterfigur bei Burschen, Probleme mit der Sexualität und vieles mehr. Die zentrale Frage ist, wer ist da, um das Vakuum zu füllen! Die Ideologie ist oftmals bis zu einem bestimmten Grad austauschbar. Es gibt etwa Rechtsextreme, die dann nahtlos zum Dschihadismus konvertieren. Oder ehemalige Linksextreme, die zu Neonazis werden.
Die Erfahrung zeigt, dass es primär um die psychischen Bedürfnisse geht, die gestillt werden wollen.
Was ist das Ziel von Terroranschlägen, wie jenem in der Wiener Innenstadt?
Terror ist eine brutale Kommunikationsstrategie. Es geht nicht darum; bestimmte Menschen zu töten, sondern Terror zielt auf die Gesamtgesellschaft ab. Er soll verunsichern und zu einer Gegenreaktion der Gesellschaft führen, etwa, dass diese eine Aushöhlung des Rechtsstaates fordert. Dies findet auch gerade statt, wie man an den Plänen für eine Sicherungshaft, den Forderungen nach lebenslangem Wegsperren nach verbüßter Haftstrafe oder anderen nicht völkerrechtskonformen Forderungen, wie etwa der Aberkennung der Staatsbürgerschaft; erkennen kann.
Das Ziel von Terror ist, eine Gegenreaktion der Gesellschaft gegen Muslime zu provozieren. Das Argument jener, die den Dschihadismus propagieren, ist: Der „Staat der Ungläubigen“ verfolgt die Menschen, weil sie Muslime sind, und somit Menschenrechte nur eine Ideologie sind und nicht für alle gelten. Das Angebot von Islamisten an junge Muslime ist, eine Alternative zur „christlichen Welt“ und den „Ungläubigen“, die sie ihrer Meinung nach ausgrenzt und verfolgt. Je größer die Ressentiments gegen Muslime wachsen, desto größer ist der Erfolg des Terrors.
Welche Rolle spielt die Religion des Islams im Zusammenhang mit Gewalttaten wie Terroranschlägen?
Der IS hat nicht nur gestrandete junge Anhänger, sondern schon auch Theologen in seinen Reihen. Es gibt eine Gewalttheologie des IS, die allerdings auf einer sehr selektiven und spezifischen Interpretation der islamischen Quellen basiert und von den allermeisten muslimischen religiösen Führern weltweit abgelehnt wird. Grundsätzlich gibt es aber nicht nur im Islam, sondern auch in vielen anderen Religionen auch Traditionen und Textstellen in heiligen Büchern, die mit entsprechendem politischem Willen als gewaltverherrlichend gelesen werden können. Die Frage, warum dann jemand diese und keine andere Interpretation von Religion befürwortet, ist dann aber nicht der Religion und den Texten inhärent, sondern ist die Folge eines politischen Willens, genau eine solche Interpretation zu betreiben und damit eine Gewalttheologie zu befördern. Die meisten jungen Leute, die sich dem IS anschließen, haben hingegen wenig bis gar keine religiöse Bildung und konvertieren geradezu direkt zum Dschihadismus.
Gibt es ein Mittel gegen Radikalisierung?
Wenn möglichst wenige Personen eine Entfremdungserfahrung machen, ist das der beste Schutz. Mit Bildung und guter Sozialpolitik können Entfremdungserfahrungen reduziert werden. Die Adoleszenz ist immer eine Krisenerfahrung. Es ist die Frage, ob Menschen eine Perspektive auf ein gutes Leben haben, ob sie sich als Subjekt oder nur als Objekt der Politik empfinden. Ausbildungsplätze und Schulen, die Entfaltungsmöglichkeiten bieten, sind essenziell. Das ist aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise derzeit sehr schwierig.
Das Wichtigste ist, dass es Möglichkeiten für junge Menschen gibt, in einer Gesellschaft einen Platz zu finden und das Gefühl zu haben, die Gesellschaft mitgestalten zu können.
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